Ganz ähnlich verhält es sich mit der Geschlechterfrage. Es braucht keine wissenschaftliche Studie um festzustellen, dass sich Mädchen am Unterricht mehr beteiligen, wenn man sie in den Anweisungen direkt anspricht: „Jede und jeder überlegt sich wie man diese Aufgabe geschickt ausrechnen könnte.“ Es liegt auf der Hand, dass Texte richtig adressiert werden müssen, um die angesprochenen Zielgruppen zu erreichen. Ist es nicht erstaunlich, dass diese Erkenntnis heute noch als brisant und diskussionswürdig betrachtet wird?
Wo wir beim Thema Schule sind: Wurden Sie je bei einer Bewerbung nach ihrem Primarschulzeugnis gefragt? Im Lehrplan 21 werden die angestrebten Kompetenzen in Zyklen über mehrere Jahre hinweg definiert. Was macht es also für einen Sinn, alle Kinder einer Klasse am gleichen Tag eine Prüfung zu einem bestimmten Thema schreiben zu lassen? Am 2. Juli 2020 werden die 2019 geborenen Kinder durchschnittlich 1 Jahr alt sein. Würden wir zu diesem Zeitpunkt benoten, wer bereits wie gut gehen kann, würde das als ungerecht und sinnbefreit empfunden. Ein Leistungsvergleich zum Stichtag entbehrt jeden pädagogischen Sinns und die Leistungbewertung taugt nicht dazu, Lernfortschritte zu erzielen. Sie steht im Widerspruch zur Grundidee des Lehrplans 21.
Sinnvoller ist es, wenn Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend, auf unterschiedlichem Niveau am gleichen Thema lernen. Im Bruchrechnen teilen einige Kinder Äpfel in gleich grosse Stücke, andere kürzen grosse Brüche mittels Faktorzerlegung. Die vorgeschriebene Benotungspraxis ist das Problem, nicht die Kinder mit Lernschwierigkeiten, Hochbegabung, oder Migrationshintergrund. Auch nicht der Lehrplan oder das Lehrpersonal. Den Spagat zwischen notenorientierter Leistung und integrativer Unterrichtsgestaltung, schaffen die Lehrpersonen nur mit einem unverhältnismässigen Effort. Solange Lehrpersonen halbjährlich ein Notenzeugnis abliefern müssen, solange wird durch den Widerspruch im System die integrative Unterrichtsentwicklung ausgebremst.
Es ist ein grosser, gesellschaftlicher Irrtum zu glauben, dass Kinder für gute Noten lernen. Kinder lernen, wenn sie motiviert sind, wenn sie Wertschätzung erhalten und Selbstvertrauen entwickeln können. Es ist höchste Zeit das Thema Notenzeugnis auf der Primarschulstufe anzugehen!
P. S. zur Abstimmung über den Rosengarten-Tunnel: Als Vorbereitung für den Abstimmungssonntag möchte ich zum Abschluss, da die Kostenangabe für die Verkehrsberuhigung auf dem Stimmzettel fehlt, Sie, liebe Leserin, lieber Leser, dazu einladen, folgende Rechenaufgabe zu lösen: 1’100’000’000 Fr. : 700 m = …… Fr./m
(Dieser Text erschien ursprünglich im Forum der Parteien des Tagblatts der Stadt Zürich.)